Berichte: 1931-02-05 Riedmayr zu Schlittenbauer

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Zusammenfassender Bericht über Lorenz Schlittenbauer

Quelle

Staatsarchiv Augsburg

Detailinformationen

Datum

5. Februar 1931

Ort

München

Autor/Funktion

Riedmayr
Friedrich Tenner, Polizeidirektor München I

Inhalt

Polizeidirektion
Landeskriminalpolizei

München, den 5. Februar 1931

Betreff: Sechsfacher Raubmord in Hinterkaifeck

Die Anzeige des Johann Kammer, die sich lediglich auf Erzählungen des Wenzeslaus Bley stützt, brachte im Wesentlichen nur eine Wiederholung der Momente, die bereits früher zu verschiedenen Malen für eine Täterschaft des Lorenz Schlittenbauer angeführt wurden.
Auch die Einvernahme des Bley ergab kaum einen neuen Gesichtspunkt für eine erfolgsversprechende Wiederaufnahme der Erhebungen in der Richtung gegen Schlittenbauer. Insbesondere gerade die wichtigsten Angaben des Bley, die in erster Linie eine Belastung des Schlittenbauer darstellen würden, sind offenkundig unrichtig, so vor allem die Behauptung, dass Schlittenbauer einen Schlüssel zum Haus besessen habe, mit dem er als erster in das Haus gegangen sei.
Bereits bei der ersten Erhebung und Einvernahme wurde mit einer jeden Zweifel ausschließenden Klarheit festgestellt, daß Schlittenbauer zuerst mit den Bauern Pöll und Siegl [Anm. richtig: Sigl] auf dem Weg durch das Maschinenhaus und in die Scheune in das Haus eingedrungen ist und daß er dann erst von innen die vordere Haustür öffnen konnte. Allerdings ist in den Akten keine Konstatierung darüber enthalten, ob diese Türe innen mit einem Riegel oder einem Schlüssel verschlossen war und ob dieser Schlüssel in der Türe steckte.
Die vorliegende Anzeige zeigt, daß sich das gesamte Verdachtskomplexes gegen Schlittenbauer die Legendenbildung bemächtigt hat und gelegentlich anderweitiger Erhebungen in der in Frage kommenden Gegend konnte ich auch in jüngster Zeit die Wahrnehmung machen, daß in der gesamten Öffentlichkeit die Überzeugung von der Schuld des Schlittenbauer verbreitet ist, ohne daß jedoch neue Anhaltspunkte gegeben werden können.
Schlittenbauer weiß sehr wohl, daß diese Gerüchte bis zum heutigen Tag nicht verstummt sind, es macht aber fast den Eindruck, als ob er zu müde geworden wäre, immer von neuem gegen diesbezügliche Anwürfe vorzugehen.
Beim Studium der Akten kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Verdächtigungen des Schlittenbauer nicht zuletzt deshalb nie zur Ruhe kamen, weil Lehrer und Pfarrer gleichfalls zu der Annahme neigten, daß er der Täter ist, und insbesondere scheint der Lehrer Yblagger nicht selten dieser Meinung auch Ausdruck verliehen zu haben.
Ich möchte nicht unterlassen in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, daß der Lehrer Yblagger, der nun in Manzoll bei Reichenhall wohnt, bis heute nicht vernommen wurde, obwohl zu verschiedenen Zeiten sein Name mit in die Debatte gezogen wurde. Vielleicht würde es sich empfehlen, gerade mit Rücksicht darauf, daß auch Bley sich immer wieder auf Yblagger beruft, dessen richterliche Einvernahme zu veranlassen.
Bei Würdigung des gesamten vorliegenden Materials muß festgestellt werden, daß zwar – wie bereits erwähnt – bisher zur Überführung ausreichende Anhaltspunkte für eine Täterschaft des Schlittenbauer nicht erbracht werden konnten, daß es aber auch heute noch nicht möglich ist, ihn endgültig aus dem Kreis der in Erwägung zu ziehenden Personen auszuscheiden.
In den Akten findet sich zwar immer wieder der Hinweis, daß bei Schlittenbauer jeder Beweggrund zu der schauerlichen Tat fehlt, jedoch wurde nach meiner Ansicht hierbei einer Feststellung zu wenig Beachtung geschenkt, die nicht aus dem Auge gelassen werden darf. Ich meine hierbei den Umstand, daß Schlittenbauer von Frau Gabriel Geld erhalten hat, das später wieder zurückgefordert wurde. Die mir zur Verfügung stehenden Akten enthalten nur sehr dürftige Andeutungen; eine Klarstellung, welche Bewandtnis es mit diesem Gelde hatte, findet sich nirgends.
Bei Beurteilung des zwischen Schlittenbauer und der Familie Gruber-Gabriel bestehenden Verhältnisses wurde immer wieder an jenen ersten Angaben festgehalten, die etwa folgenden Sachverhalt ergaben:
Andreas Gruber war im Jahre 1915 wegen Blutschande mit seiner Tochter Viktoria Gabriel mit einem Jahre Zuchthaus und dieselbe mit einem Jahre Gefängnis bestraft worden. Im September 1919 hatte dann Lorenz Schlittenbauer, der natürliche Vater des ermordeten Knaben, nachdem er wegen Anerkennung der Vaterschaft und Alimentierung des Kindes in Anspruch genommen war, gegen Gruber und seine Tochter eine neue Strafanzeige wegen Blutschande erstattet. Das Strafverfahren endete jedoch damals mit Freispruch der Beiden, nachdem Schlittenbauer sich mit der Kindsmutter geeinigt und eine Abfindungssumme von 1800 M für das Kind bezahlt hatte.
Von dem Geld, das Schlittenbauer erhielt ist in dieser immer wiederkehrenden Darstellung mit keinem Wort die Rede, sie bedarf deshalb meines Erachtens einer nicht unbedeutenden Korrektur, die im folgenden versucht sei:
Nach der ganzen Sachlage muß mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß der Erzeuger des Knaben der alte Gruber war. Als sich die Gabriel schwanger fühlte, dürften Vater und Tochter eine neuerliche Bestrafung gefürchtet haben und so wurde Schlittenbauer zum “Handkuß“ zugelassen, ohne daß er wohl zunächst geahnt haben mag, welch eigenartige Rolle ihm zugedacht war.
Später erkannte er dann die wahren Zusammenhänge, möglicherweise erst bei Berechnung der Empfängniszeit, und erstattete gegen Gruber Anzeige wegen Blutschande. Um eine neuerliche Bestrafung abzuwenden, mag nun Viktoria Gabriel sich mit Bitten und Versprechungen an Schlittenbauer gewandt und ihm insbesondere in Aussicht gestellt haben, daß er sie heiraten könne.
Schlittenbauer erhielt damals auch von Viktoria Gabriel am 3. Tag nach der Entbindung 5.000 M (siehe Bl. 177 des Hauptaktes). Wofür dieses Geld bezahlt wurde geht aus den Akten nicht hervor, jedoch ist der Gedanke naheliegend, daß es sich um eine Bestechung handelte. Möglich ist auch, daß ihm das Geld nur ausgehändigt wurde, um ihn in den Stand zu setzen die Abfindung zu bezahlen und dadurch bei der vormundschaftsgerichtlichen Verhandlung seiner Anerkennung der Vaterschaft besondere Glaubwürdigkeit zu verleihen.
Eine Abfindung aus Eigenem hat Schlittenbauer demnach überhaupt nie bezahlt.
Er erkannte die Vaterschaft an und bewahrte so den alten Gruber und seine Tochter vor der Strafe.
Hierzu hat er sich wohl nur deshalb herbeigelassen, weil ihm versprochen worden war, daß ihn die nicht unvermögende Gabriel heirate. Sein Einspringen wurde aber schlecht gelohnt; die Versprechungen wurden nicht gehalten, der alte Gruber gab seine Tochter nicht her und zudem wurde das Geld zurück gefordert.
Bei Würdigung des ganzen Charakterbildes, das von der Familie Gruber-Gabriel gegeben wurde, ist ihnen eine solche Handlungsweise wohl zuzutrauen.
Schlittenbauer mag eingesehen haben, daß er diesem Wortbruch machtlos gegenüberstand; die Abmachungen konnte er nicht aufdecken, ohne selbst unter die Räder zu kommen.
Daß er noch wiederholt versucht hat, wenigstens Geld zu erhalten, geht daraus hervor, daß Viktoria Gabriel geklagt hat, daß Schlittenbauer von ihnen fortgesetzt Geld erpreßte (siehe Bl. 10 des Sonderaktes“Schlittenbauer“). Bei dem bekannten Geiz der Familie Gruber hat er kaum welches erhalten und es kann wohl angenommen werden, daß Schlittenbauer keinen gerungen Groll gegen die Bewohner des Hinterkaifecker Hofes nährte. Wenn er dann, wie aus den Akten hervorgeht (siehe auch Bl. 1 des Sonderaktes“Schlittenbauer“), noch zuweilen gefragt wurde, warum er denn die Viktoria Gabriel nicht geheiratet habe, so mag dadurch die Wut immer neu aufgestachelt worden sein.
So scheint mir die grausige Tat immerhin erklärlich, ausgelöst wurde sie möglicherweise durch ein bis heute unbekanntes Ereignis oder vielleicht eine Aussprache mit Viktoria Gabriel, die ja auch dem Tatbestandbericht wahrscheinlich als erste getötet wurde.
Wenn auch nicht jede Einzelheit des Vorstehenden durch eindeutige Feststellungen belegt werden, so glaube ich doch sagen zu dürfen, daß diese Darstellung viel Wahrscheinlichkeit für sich hat.
So würde auch verständlich werden, warum sich die Wut des Täters sogar an dem kleinen Kind in solcher Heftigkeit austobte. Der Eindruck, daß es sich viel eher um einen Racheakt, als um einen Raubmord handelt, war ja wohl immer vorherrschend.
Eines scheint mir jedenfalls festzustehen: Schlittenbauer hielt sich selbst nicht für den Vater des Kindes.
Sein Jammern nach “seinem Hanserl“ (der Knabe hieß eigentlich Josef) erhält bei solcher Betrachtung eine besondere Beleuchtung.
Schließlich sei noch erwähnt, daß ich vor einiger Zeit in Waidhofen in Erfahrung brachte, daß Schlittenbauer, wenn die Rede auf den Mord kommt, unter Hinweis auf den bekannten Bibelspruch, daß die, die Blutschande treiben, der Zorn Gottes trifft, unter Vorzeigung der Bibel zu sagen pflegt:“Es war ein Gottesgericht. Gott hat eben einen der seinen auserwählt und der es getan hat, war nur das Werkzeug von Gottes strafender Gerechtigkeit“.
Eine Äußerung, die auch der Gendarmerie - Kommissär Goldhofer von Hohenwart schon von Schlittenbauer gehört hat und die ganz in den Rahmen der vorstehenden Auffassung paßt.
Zum Schluß möchte ich nicht unterlassen darauf hinzuweisen, daß ich mir wohl bewußt bin, daß die Aussichten für eine Überführung des Schlittenbauer denkbar gering sind. Immerhin geben die mir vorliegenden Akten einschließlich der umfangreichen polizeilichen Vormerkungen keinen Aufschluß über das erwähnte Geld. Die Klärung dieser Frage wird sich deshalb nicht umgehen lassen.
Ob zu den sehr bedeutsamen Niederschriften Bl. 174 – 180 des Hauptaktes noch weitere Ermittlungen angestellt wurden, entzieht sich meiner Kenntnis.
Da die einzelnen Protokolle nicht unterschrieben sind, ist möglicherweise noch eine Urschrift vorhanden, die in einen anderen Akt eingelegt wurde.
Nach der ganzen Sachlage ist es (wenigstens solange sich Schlittenbauer auf freiem Fuß befindet) unwahrscheinlich, daß durch weitere Zeugenbefragungen wesentliche neue Gesichtspunkte erbracht werden können. Es wäre deshalb nach durchgeführter Vernehmung des Lehrer Yblagger wohl die Frage zu erwägen, ob es sich nicht empfehlen dürfte Schlittenbauer nochmals eines gründlichen Verhörs zu dem gesamten Fragenkomplex zu unterziehen.
Aus taktischen Erwägungen würde diese Einvernahme hier erfolgen und Schlittenbauer würde zu diesem Zwecke nach München vorgeladen werden, vorausgesetzt, daß die Staatsanwaltschaft die Kosten übernimmt, die ja keineswegs höher werden, als wenn ein Beamter nach Gröbern fährt.
gez. Riedmayr,
Krim. Inspektor


Eingeschriebenes Päckchen !
Mit zwei Aktenheften
1 Hauptakt A 169/22 u. 1 Aktenheft betr. Schlittenbauer
An den Herren Oberstaatsanwalt
Bei dem Landgerichte Neuburg a. d. Donau
ergebenst zurückgeleitet
München, den 7. Februar 1931
Polizeidirektion
I.A.
gez. Tenner

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