Wissen: Ortsführer

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Was?

Die Frage nach der Funktion des Ortsführers und nach seinen Aufgaben stellt sich immer wieder im Zusammenhang mit dem Mordfall Hinterkaifeck.
Lorenz Schlittenbauer war Ortsführer von Gröbern und zudem Nachbar und Ex-Geliebter von Viktoria Gabriel.
Insofern ist es spannend zu wissen, welche Aufgaben denn ein damaliger Ortsführer in Bayern hatte und wie er in sein Amt befördert wurde.


Auch wenn die nachstehenden Quellen weder zeitlich noch örtlich nahe an dem Gröbern der Zwanziger Jahre dran sind, so erlauben sie doch eine Einschätzung, welche Rolle ein Ortsführer innehatte. Für Ergänzungen und weitere, bessere Quellen bitte über das Kontaktformular oder per Email an uns wenden.


Ein Ortsführer hatte die Aufgabe, in kleineren Gemeindeteilen gemeinsame Ernte- und Weideeinsätze zu koordinieren, sowie den Gemeindeteil und seine Interessen in der Hauptgemeinde zu vertreten.
Er war das Sprachrohr des Gemeindeteils zum Gemeinderat hin, ohne jedoch dort Stimmrecht oder eine weitere Funktion zu haben.
Wahrscheinlich half ein Ortsführer auch bei bürokratischen Dingen und versorgte die Menschen unter seiner Obhut mit Informationen aus dem Gemeinderat.

Gesetzliche Grundlagen

Die Gemeindeverfassungen Deutschland's und ... 1-2.Bd.. Stolp, H. (1873) [1]


52 Bayerische Gemeinde-Ordnung VIII. (1872)

'B. Polizei'
Art. 138. Die Handhabung der Ortspolizei ist dem Bürgermeister allein übertragen. Hiernach steht demselben der Vollzug der die Polizeiverwaltung betreffenden Gesetzte, gesetzlich erlassenen Verordnungen, polizeilichen Vorschriften und kompetenzmäßigen Anordnungen der vorgesetzten Behörden innerhalb des Gemeinedebezirkes zu, soweit hierfür nicht durch Gesetz oder gesetzmäßige Verordnung die Zuständigkeit einer höheren Behörde begründet ist.
Er hat insbesondere die polizeiliche Aufsicht zu pflegen, die nöthigen Visitationen vorzunehmen, die ortspolizeilichen Bewilligungen zu ertheilen und die ortspolizeiliche Anzeigen zu erstatten.
Er hat für die Erhaltung der öffentlichen Sicherheit, Ordnung, Ruhe und Sittlichkeit zu sorgen und den Fremdenverkehr zu überwachen; er hat das Recht der vorläufigen polizeilichen Einschreitung zur Verhütung strafbarer Handlungen.
Er hat bei Verletzung der Strafgesetze die zur Ermöglichung und Sicherung der gerichtlichen Einschreitung zulässigen vorläufigen Maaßregeln, soweit nöthig, vorzukehren und die Gerichte bei Führung der Untersuchungen, insbesondere bezüglich der Aufnahme und Sammlung der Beweismittel. entsprechend zu unterstützen, sowie in allen Fällen, in welchen die Festnahme einer Person zulässig und veranlaßt erscheint, diese Festnahme zu bewirken. Er ist verpflichtet, nöthigenfalls für den Transport der von den Bediensteten des Staates im Gemeindebezirke Aufgegriffenen an die Distriktspolizeibehörde oder den Einzelrichter des Bezirkes gegen Ersatz der Kosten aus Staatsmitteln zu sorgen.
Ihm liegt ob, die augenblicklichen Vorkehrungen gegen Gefahren für das Leben und Eigenthum zu treffen, die Anstalten für Beförderung der allgemeinen Wohlfahrt in der Gemeinde zu beaufsichtigen und namentlich sein Augenmerk auf die öffentliche Reinlichkeit, die Einrichtungen für Gesundheit, die Feuerbeschau und Feuerlöschanstalten, die öffentlichen Wege, Stege, Brücken, Brunnen und Wasserleitungen, den Verkauf von Lebensmitteln, den Marktverkehr, dann auf Maaß und Gewicht zu richten und die entsprechenden Verfügungen und Maaßregeln zu treffen oder zu veranlassen.
Derselbe hat ferner dafür Sorge zu tragen, daß alljährlich mindestens einmal die Flur- und Markungs-Grenzen von den Feldgeschworenen nach Maaßgabe des Art. 21 des Vermarkungsgesetzes vom 16. Mai 1868 umgangen und die zur Anzeige gebrachten Mängel abgestellt werden.

Art. 139. Der Beigeordnete und die Gemeindebevollmächtigten sind verpflichtet, sich nach Anordnung des Bürgermeisters zu polizeilichen Geschäften verwenden zu lassen.
In den vom Wohnsitze des Bürgermeisters entfernten Orten kann ein dort wohnendes Mitglied des Gemeinde-Ausschusses, in dessen Ermangelung ein vom Gemeindeausschuß gewählter Ortsführer, mit Zustimmung der vorgesetzten Verwaltungsbehörde als Gehilfe der Polizeiverwaltung abgestellt werden. Dieser hat in dringlichen Fällen statt des Bürgermeisters zu handeln, außerdem dessen Aufträge zu vollziehen, die nothwendigen Anzeigen an denselben zu machen und die Beseitigung gesetzwidriger Zustände in der Ortschaft zu veranlassen.


Sechste Abtheilung
Von den Wahlen zu Gemeindeämtern.

Art. 170. Wahlstimmberechtigt sind alle Gemeindebürger mit Ausschluß jener, welche wegen eines Verbrechens oder wegen Vergehens des Diebstahls, der Unterschlagung, des Betrugs, der Hehlerei oder der Fälschung verurtheilt worden sind, oder in Folge rechtskräftiger Verurtheilung wegen eines anderen Vergehens die in Art. 28 Ziff. 4 und 5 des Strafgesetzbuches bezeichneten Fähigkeiten oder einzelne derselben verloren und nicht vollständige Rehabilitation erlangt haben. Das Wahlrecht derjenigen, gegen welche das Gantverfahren eingeleitet ist, kann vor rechtskräftiger Beendigung dieses Verfahrens nicht ausgeübt werden.
Art. 172. Wählbar als Bürgermeister, Beigeordneter, Gemeindebevollmächtigter, Distriktsvorsteher, Ortspfleger, Ortsführer, sowie als Mitglied eines Magistrates, Gemeinde- oder Orts-Ausschusses und eines von der Gemeindeverwaltung gebildeten besonderen Ausschusses sind, soweit nicht Abs. II anwendbar ist, alle wahlstimmberechtigten Gemeindebürger, welche die in Art. 11 vorgeschriebene Befähigung besitzen, das fünfundzwanzigste Lebensjahr zurückgelegt und in der Gemeinde ihren Wohnsitz haben.
...
Die zu der Stelle eines rechtskundigen Bürgermeisters oder Magistratsrathes zu Wählenden müssen außerdem die Prüfung für die Anstellung im Richteramte oder im Dienste der inneren Staatsverwaltung mit Erfolg bestanden haben.

Aufgaben im Einzelnen

Diese Liste der Verantwortlichkeiten eines Ortsführers Anfang des 20. Jahrhunderts stammt aus der Informationsbroschüre "Wehrda ein Dorf im Wandel der Zeit! Die Zeit 1900-1933" (1998) und wurde uns durch den User Oliver zur Verfügung gestellt (nachzulesen im Diskussionsforum (Registrierung erforderlich)).

1. Durchführung bzw. Mitwirkung bei Ehrungen,

2. Durchführung von öffentlichen Feierstunden (z.B. Altenweihnachtsfeier).

3. Tätigkeit als Wahlvorsteher für die örtlichen Stimmbezirke bei Wahlen und Mitwirkung bei der Vorbereitung von Wahlen.

4. Entgegennahme und kurzfristiges Aufbewahren von Fundsachen.

5. Überwachung und Vergabe der örtlichen Gemeinschaftshäuser

6. Beaufsichtigung und Überwachung öffentlicher Einrichtungen:
      a) der Straßen, Wege und Plätze einschl. der Straßenbeleuchtung
      b) der Kanalisation
      c) der Wasserversorgung
      d) der Viehwagen
      e) der Jugendräume
      f) der öffentlichen Spielplätze
      g) der Stallungen
      h) der örtlichen Friedhöfe

7. Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung hinsichtlich des Einsatzes städtischer Mitarbeiter/innen, Maschinen und Geräte, insbesondere bei der Unterhaltung von Straßen, Wegen und Plätzen, der Pflege von Wegeseitengräben, der Kanalreinigung und der Straßenbeleuchtung.

8. Mitwirkung bei der Vermietung und Verpachtung örtlicher Objekte.

9. Mitwirkung bei der Ortsbildverschönerung.


Bezug zu Hinterkaifeck

Lorenz Schlittenbauer war Ortsführer von Gröbern und damit auch zuständig für Hinterkaifeck und seine Bewohner.

Weitere Quellen

  • "Je nach Bewirtschaftungsart und -system der Felder konnten oder mussten Beschlüsse über das Land oder „Termine für das Pflügen, das Säen und alle anderen Arbeits­vor­gänge (...) welche Getreidearten angebaut und wann die abgeernteten Felder für das Abweiden durch die Rinder des Dorfes geöffnet werden sollten“ (Blum 1982:17) in der Gemeinde oder Dorfversammlung beschlossen werden.
    Entscheidungen der Dorfgemeinde beinhalteten z. B. auch den Erwerb oder Verkauf von Weide- oder Ackerland, für die Gemeinschaft; sie war zuständig für die innere Ordnung des gemeinsamen Lebens und sorgte für moralische und religiöse Standards der Mitlieder wie beispielsweise der sonntägliche Kirchgang, der Empfang der Sakra­mente oder das Bestrafen von Trunkenheit und Glücksspiel. Aufgrund der Größe und dadurch entstehenden Intimität, war gegenseitige Kontrolle einfacher und die Privat­sphäre beschränkter." [2]