Zeitungsartikel: 1951 Hecker Serie 04

Aus Das Hinterkaifeck-Wiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Die Mordnacht in Hinterkaifeck

Detailinformationen

Datum

1951

Ort

Ingolstadt

Art des Dokumentes

Zeitungsserie

Verfasser

Josef Ludwig Hecker

Verfasst für

Donaukurier

Inhalt

DER UNSICHTBARE
Die Sicht reicht keine zehn Schritt weit. Von dem Menschen der durchs Fenster spähte, ist weit und breit nichts mehr zu entdecken. Barhäuptig läuft der alte Mann um das ganze Gehöft, dann kommt er in den Stall zurück. Seine Tochter lehnt leichenblaß an der Wand. Er hakt die Tür ein, dann kommt er durchnäßt und mit zerzaustem Haar auf sie zu.
"Der Kerl muss in den Wald entwichen sein", sagt er und atmet schwer. "Hast du sein Gesicht genau gesehen?"
Viktoria schüttelt den Kopf und deckt die linke Hand über die Augen. Ihr Schreck ist zu groß gewesen, als daß sie Einzelheiten des unheimlichen Gesichtes wahrgenommen hätte.
"Langsam werden die Dinge seltsam", fährt ihr Vater fort, und als er das Entsetzen in ihren Augen gewahrt, fügt er hinzu: "Vielleicht war es der Bursche, der mir neulich eine Uhr für Gold anbot."
"Hast du ihm denn gesagt, daß wir Goldgeld im Hause haben?", fragt die junge Frau und horcht auf.
"Er wird es wohl gemerkt haben", weicht der Vater aus. Man kann diesem herumstrolchenden Gesindel gegenüber wirklich nicht vorsichtig genug sein." Er bringt die Rede auf einige Einbrüche, die sich in letzter Zeit in der näheren Umgebung zugetragen haben, und bemerkt, daß sich die Angst seiner Tochter allmählich legt. Vor Einbrechern scheint sie keine Furcht zu haben.
Er holt Wasser herbei und tränkt die Tiere, und Viktoria macht sich ans Melken. Als er eben gehen will, tönt ein polterndes Geräusch aus dem Stadel, der an den Stall angebaut ist. Viktoria fährt von ihrem Melkstuhl hoch. Ihr Gesicht drückt keine Furcht, sonder wilde Entschloßenheit aus.
Mit ein paar Sprüngen holt sie ihren Vater ein, der die Lampe von der Wand gerissen und die Tür zur Futterkammer aufgestoßen hat. Von der Futterkammer dringen sie in den Stadel ein. Eine Mistgabel in der Hand und mit den Augen jeden Winkel anspähend, geht die junge Frau an der Seite ihres Vaters durch den ganzen Stadel. Sie finden nichts Verdächtiges. Entweder ist irgendein Gegenstand umgefallen oder aber das Geräusch ist durch den Sturm verursacht worden.
Das Stadeltor ist geschlossen, aber nicht abgesperrt. Der alte Gruber schiebt den Sperrbalken vor. Noch einmal geht er, die Lampe hochhaltend, durch den Stadel. Nur um das Heu macht er, des offenen Lichtes wegen, einen vorsichtigen Bogen. Er beachtet die Leiter nicht, die am Heustock lehnt, und so bleibt es ihm verborgen, daß die unteren Sprossen teilweise naß und frisch beschmutzt sind.
Während Viktoria ihre Melkarbeit fortsetzt, überzeugt er sich, daß alle Türen und Fenster des Hauses geschlossen sind, dann begibt er sich in die Küche. Seine Enkelin Cäzilie sitzt am Tisch und schreibt ihre Schulaufgaben und seine Frau spült das Geschirr. Zwischendurch muß sie auf den kleinen Josef achten, der immer wieder versucht, Teller und Tassen aus dem Küchenschrank zu nehmen, um damit zu spielen. Als sie ihm endlich auf die Finger klopft, fängt der Bub zu weinen an. Andreas Gruber kann eine zornige Bemerkung nicht zurück halten. Da weint auch die Frau.
"Geht ins Bett!", sagt der Mann ungehalten und dann fügt er hinzu: "Ich weiß ja selbst, daß die Arbeit zu viel ist. Das Geschirr soll die Viktoria spülen, wenn sie aus dem Stall kommt." Er dreht sich nach dem Wandkalender um. ²Heute ist der 29. März. Übermorgen kommt die Magd aus Kühbach. Dann hast du deine Ruhe."
Die alte Frau schickt die Enkelin zu Bett, dann nimmt sie den Buben und begibt sich mit ihm ins Schlafzimmer. Andreas Gruber befindet sich allein in der Küche. Die Hände in den Hosentaschen, wandert er auf und ab. Er hört seine Tochter nebenan den Melkeimer niederstellen. Nun tritt sie in die Küche.
Sie nimmt das Tuch vom Kopf und schlüpft aus der Stallbluse. Ihre Blicke begegnen denen ihres Vaters. Er nickt kurz, als beantwortete er damit eine lautlose Frage. Da geht sie an den Herd, und in wenigen Minuten ist das Geschirr gespült und aufgeräumt. Als sie die Hand nach dem kleinen Gefäß an der Tür hebt, um sich mit Weihwasser zu besprengen, schüttelt der Mann den Kopf. "Bleib' noch!", sagt er...
Draußen tobt der Sturm mit unverminderter Schärfe, im dunklen Stall stehen und liegen die Kühe mit malmenden Mäulern, und am Heustock im Stadel lehnt eine lange Leiter. Nichts mehr hat sich dort geregt, seit der alte Gruber und seine Tochter Nachschau gehalten haben. Nun knarren die Sprossen leise.
Eine Gestalt gleitet langsam und schattenhaft in die Tiefe. Schleichende Schritte nähern sich der Futterkammer. Dort verharrt der Unsichtbare und öffnet Zoll für Zoll die Tür. Warmer Dunst und das behäbige Kauen der Tier schlagen ihm aus dem Stall entgegen. Eine Kette rasselt. Mit untrüglichen Ortssinn durchquert der nächtliche Wandler den dunklen Stall.
Nur einmal geht sein Fuß an ein Hindernis. Da ist der Melkstuhl, auf dem die junge Bäuerin vor einer Stunde noch gesessen hat. Der Mann bückt sich. Er hebt den kleinen Hocker empor. Seine Fäuste krampfen sich um das glatte Holz und sein Atem geht laut. Dann stellt er den Hocker nieder und setzt seine Wanderung fort, bis er vor der Tür steht, die aus dem Stall ins Haus führt. Er öffnet sie und lauscht ins Dunkel hinein.
Die Hinterkaifecker schlafen noch nicht. Ein winziger Lichtschein sickert aus dem Schlüsselloch der Küchentür. Undeutlich ist eine Stimme zu hören. Das ist der alte Gruber. Eine lachende Frauenstimme antwortete. Das ist sie, die abends so verstört im Stall gestanden hat. Jetzt ist sie nicht mehr verstört. Sie lacht. Was sollte sie auch in der behaglichen Wärme der Küche ängstigen? Der Alte ist bei ihr, ihr Vater, der es an Kraft und Ausdauer immer noch mit manchem Jüngeren aufnähme. Wieder lacht sie. Die Kinder hat sie wohl zu Bett gebracht, und ihre alte Mutter mag auch schon liegen.
Der Mann im Dunkeln überlegt eiskalt. Wenn er an die Tür schleicht, kann er sicher einiges von dem verstehen, was in der Küche gesprochen wird. Er läuft natürlich Gefahr, daß eins unversehens die Tür öffnet, bevor er entweichen kann. Aber diese Gefahr kümmert ihn nicht. Er will hören, was die zwei in der Küche miteinander reden. Er muß es hören. Schritt für Schritt bewegt er sich vorwärts. Seine tastende Rechte berührt die Stiele zweier Werkzeuge, die an der Wand lehnen. Er schlägt einen vorsichtigen Bogen, dann hat er die Tür erreicht.
Und da steht er nun und lauscht, und von Zeit zu Zeit bückt er sich und tut einen Blick durchs Schlüsselloch. Er sieht nichts weiter als die Lehne eines Stuhles und dahinter den schwingenden Perpendikel einer kleinen Wanduhr.
Die Unterhaltung, deren Zeuge er wird, dreht sich zunächst um höchst alltägliche Dinge, dann beklagt sich die junge Bäuerin über ihren Jüngsten, der zuweilen einen so eigensinnigen Kopf aufsetze. Nun ist es der alte Gruber, der lacht. Er sagt ein paar Worte und lacht wieder, seine Tochter erwidert etwas und lacht gleichfalls, dann ist es still in der Küche. Nur der Perpendikel der Uhr schwingt blechern und draußen, vor der Tür, steht einer und hat das Empfinden, als wirbelte ihm mit hochströmenden Blut der Wahnsinn ins Hirn.
Er geht und vergißt, daß ihn niemand hören darf. Derb stößt er gegen die an der Wand lehnenden Geräte, die mit lautem Gepolter zu Boden fallen. Der Lärm bringt den Mann jäh zur Besinnung. Mit einem Sprung erreicht er die Stalltür. Augenblicke später hat er eines der Stallfenster aufgerissen, dann läuft er in die Futterkammer. Er schließt die Tür hinter sich, durchquert den Stadel und hastet die Leiter im Heustock empor.

                                        

Offene Fragen/Bemerkungen