Zeitungsartikel: 1997-03-22 Die Welt: Unterschied zwischen den Versionen

Aus Das Hinterkaifeck-Wiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen
(Die Seite wurde neu angelegt: „'''''Mehr als sieben Jahrzehnte nach der Bluttat beschäftigt der Mordfall Hinterkaifeck immer noch die Menschen einer ganzen Region in Oberbayern''''' == Detaili…“)
 
Keine Bearbeitungszusammenfassung
Zeile 16: Zeile 16:
|
|
<tt>
<tt>
100 000 Mark stellte die Polizei für die Ergreifung der Täter in Aussicht; alle möglichen Spuren wurden verfolgt, und in einer Séance erhofften sich die ermittelnden Beamten gar Hilfe von zwei weiblichen Medien - doch die Täter im Fall Hinterkaifeck konnten nie gefaßt werden. Vielleicht sind daran auch die wirren Verhältnisse im Deutschland jener Jahre schuld.Augsburg - Am 30. März des Jahres 1922 macht der 63jährige Altbauer Andreas Gruber auf seinem Einödhof Hinterkaifeck nahe dem oberbayrischen Schrobenhausen eine Entdeckung, die ihm das Blut in den Adern gefrieren läßt: Vom Waldrand führen Spuren durch den Schnee auf sein Anwesen zu - aber keine zurück. Der wortkarge Mann erzählt zwar zwei Nachbarn, was er gesehen hat, die örtliche Gendarmerie schaltet er aber nicht ein. Die Spuren im Schnee sind nur ein letztes Zeichen dafür, daß auf dem einsamen Gehöft etwas nicht stimmt. Im Herbst 1921 hat überstürzt die junge Magd Kreszenz R. gekündigt - wegen der "gespannten Atmosphäre" auf dem Hof und "weil es dort spukt". Der Bauer findet eine Zeitung, die auf Hinterkaifeck nicht gelesen wird; auch hat sie der Postbote nicht verloren. Und immer wieder gibt es Einbruchspuren. In der Nacht vom 31. März auf den 1. April 1922 werden Andreas Gruber, seine Ehefrau Cäzilia, seine verwitwete Tochter Victoria Gabriel, deren siebenjährige Tochter Cäzilia und der zweieinhalbjährige Sohn Josef sowie die für Kreszenz auf den Hof gekommene Magd Maria Baumgartner bestialisch mit einer Kreuzhacke ermordet. Nacheinander wurden sie in der stürmischen Nacht durch eine losgebundene, unruhige Kuh in den Stall gelockt. Wie die spätere Obduktion ergibt, hat sich das siebenjährige Mädchen in einem zweistündigen Todeskampf büschelweise die Haare ausgerissen. Die letzte Vernehmung im Fall Hinterkaifeck fand 1986 in Hallbergmoos bei Freising statt. Doch die Täter wurden nie gefaßt, und so halten die Mutmaßungen an, beschäftigt der Fall die Menschen der Region im Städtedreieck Augsburg/Regensburg/München bis heute. Der Münchener Journalist Peter Leuschner, der seit zwei Jahrzehnten die Mordgeschichte recherchiert und dafür die bayerischen Archive durchkämmt, veröffentlicht dieser Tage ein detailliertes Buch über die gruseligen Vorgänge auf Hinterkaifeck - und über die nachgerade gespenstischen Ermittlungen (Peter Leuschner: "Hinterkaifeck". Apus-Verlag, Hofstetten. 367 S., 42 Mark). Erst vier Tage nach der Tat werden die Leichen entdeckt. Die Münchener Mordkommission unter Leitung des gewissenhaften, aber durch die Untersuchung rechter Fememorde in Bayern überlasteten Oberinspektors Georg Reingruber ermittelt in einem Klima wahrer Hysterie. Hunderte von Bauern streifen, mit Sensen und Werkzeugen bewaffnet, durch die Wälder, um die Mörder zu suchen. Oberschlesische Vertriebene, Hausierer, Banden und überhaupt alle Fremden werden verdächtigt. Schnell deckt Oberinspektor Reingruber immerhin auf, daß Altbauer Gruber Inzest mit seiner 35 Jahre alten verwitweten Tochter trieb; der kleine Josef galt als Kind dieser Verbindung. Schon 1919 war Gruber wegen Blutschande zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden. In der Öffentlichkeit sagte er, nachdem sein Schwiegersohn im Ersten Weltkrieg gefallen war: "Mei Tochter braucht kein Mann mehr, dafür bin i da." Als offizieller Vater des kleinen Josef gilt der Nachbar Lorenz Schlittenbauer, mit dem die junge und schöne Witwe demonstrativ ein kurzes Verhältnis hatte. Bei der Obduktion schneidet der zuständige Neuburger Landgerichtsarzt Johann Baptist Aumüller auf einem provisorischen Seziertisch auf dem Hof allen sechs Leichen die Köpfe ab. Damit beginnt ein besonders bizarres Kapitel der jahrzehntelangen Ermittlungen. Die Münchener Polizeiführung neigt in jenen Jahren okkulten Kreisen zu, im Zusammenhang mit der Aufklärung von Fememorden im rechtsextremistischen Milieu werden Hellseherinnen eingeschaltet. Auch im Fall Hinterkaifeck organisiert die desorientierte Polizei eine Séance. In Nürnberg befassen sich zwei weibliche Medien mit den Köpfen der Leichen. Die Sitzungen werden in Gegenwart des Ersten Staatsanwalts Ferdinand Renner protokolliert. Eines der Medien beschreibt einen der Täter mit den Worten: "Hat etwas Scheues an sich, häßliches Lachen, noch jünger, Furche im Gesicht, im Blick etwas Stechendes, kann sich sehr verstellen." Die sechs Köpfe verlieren sich später irgendwo in den Wirren der Weimarer Republik und den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs. Autor Leuschner hat nun eine gewaltige Stoffsammlung zusammengetragen, die grelle Schlaglichter auf die wirren Verhältnisse im Deutschland jener Zeit wirft. Als in Hinterkaifeck in jenem März vor 75 Jahren der sechsfache Mord geschah, konnte ein gewisser Friedrich Haarmann gerade das Arbeitslager Jägerheide verlassen. Er erlangt bis zu seiner Hinrichtung im Jahr 1924 traurige Berühmtheit durch zahlreiche Knabenmorde und zusätzlich durch die Eigenart, manchen Opfern in sexueller Ekstase die Kehle durchzubeißen. Leuschners Hinterkaifeck-Buch liefert reiches sozialgeschichtliches Material mit bedrückenden Details über die sozialen Zustände in der Provinz der Weimarer Republik - über eine verdichtete Atmosphäre tiefer Gläubigkeit, roher Verbrechen und einer entwurzelten Gesellschaft, die sich bereits im Umbruch hin zum Nationalsozialismus befindet. Die Polizei stellt 1922 für die Ergreifung der Täter die damals geradezu atemberaubende Summe von 100 000 Mark in Aussicht. Die unterschiedlichsten Spuren werden verfolgt. War der düpierte Nachbar Schlittenbauer einer der Mörder? Hatten die Täter tagelang auf einem Dachboden des großen Einödhofs gehaust, um ihre Opfer zu beobachten? Dafür gibt es Anhaltspunkte. Sicher ist, daß die Täter nach den Morden noch auf dem Hof gegessen und das Vieh versorgt haben. Möglich ist, daß das Anwesen von rechten Kreisen als geheimes Waffenversteck genutzt wurde. Jeder Verrat solcher Verstecke oder auch nur die Androhung des Verrats führte zu Fememorden. Ziemlich sicher ist, daß der Fall Hinterkaifeck kein Raubmord war, wie die Polizei lange angenommen hat. Die Grubers waren für ihre Zeit ausgesprochen reiche Leute. Die Täter ließen aber große Geldsummen unangetastet. Der damalige Waidhofener Pfarrer Michael Haas ist einer der ganz wenigen, der die Mörder gekannt haben könnte. In den Polizeiakten fehlt allerdings die Aussage des Geistlichen, der doch in der tief katholischen Gegend - durch die Beichte - über alle Verhältnisse Bescheid gewußt haben muß. Seltsam erscheint manchem auch, daß Grubers Tochter Victoria kurz vor dem Verbrechen im Beichtstuhl der Kirche eine Geldspende von 700 Mark liegenließ. Nicht von ungefähr löst der Fall Hinterkaifeck in Bayern eine Diskussion um das Beichtgeheimnis aus. Immer wieder ist gerätselt worden, ob der in Frankreich gefallene Ehemann der Victoria womöglich zum Zeitpunkt der Tat gar nicht tot war, sondern blutige Rache an seinem Schwiegervater und dessen Familie geübt haben könnte. Die Leiche des vorgeblich 1914 in Frankreich gefallenen Karl Gabriel konnte nie gefunden werden. Die Polizei verfolgte jahrelang Spuren verdächtiger französischer Fremdenlegionäre - Legionäre können problemlos neue Namen annehmen. Einen Beweis für die These, die Karl Gabriel als Täter sieht, gibt es jedoch bis heute nicht. Autor Leuschner, der mit Rücksicht auf die überlebenden - zu Unrecht - Verdächtigten bewußt nichts über seine persönlichen Verdachtsmomente sagen will, meint: "Rein theoretisch könnten die Täter oder einer von ihnen hoch betagt noch leben." Der Hof Hinterkaifeck wurde nach dem Mord abgerissen. Heute ist der ehemalige Tatort ein blanker Acker, in dessen Nähe nur noch ein Marterl ("Gottloser Mörderhand fielen zum Opfer") an das Verbrechen erinnert. Da die Schrobenhausener Spargelfelder ordentlich genutzt werden sollen, wurde das Marterl einmal leicht versetzt. Die sechs kopflosen Opfer sind auf dem Friedhof in Waidhofen beigesetzt. Auf dem Grabstein stehen zwei knappe Sätze aus dem neunten Psalm: "Der Herr gedenket als Bluträcher ihrer. Vergisst nicht das Geschrei der Armen."
100 000 Mark stellte die Polizei für die Ergreifung der Täter in Aussicht; alle möglichen Spuren wurden verfolgt, und in einer Séance erhofften sich die ermittelnden Beamten gar Hilfe von zwei weiblichen Medien - doch die Täter im Fall Hinterkaifeck konnten nie gefaßt werden. Vielleicht sind daran auch die wirren Verhältnisse im Deutschland jener Jahre schuld.Augsburg - Am 30. März des Jahres 1922 macht der 63jährige Altbauer Andreas Gruber auf seinem Einödhof Hinterkaifeck nahe dem oberbayrischen Schrobenhausen eine Entdeckung, die ihm das Blut in den Adern gefrieren läßt: Vom Waldrand führen Spuren durch den Schnee auf sein Anwesen zu - aber keine zurück. Der wortkarge Mann erzählt zwar zwei Nachbarn, was er gesehen hat, die örtliche Gendarmerie schaltet er aber nicht ein. Die Spuren im Schnee sind nur ein letztes Zeichen dafür, daß auf dem einsamen Gehöft etwas nicht stimmt. Im Herbst 1921 hat überstürzt die junge Magd Kreszenz R. gekündigt - wegen der "gespannten Atmosphäre" auf dem Hof und "weil es dort spukt". Der Bauer findet eine Zeitung, die auf Hinterkaifeck nicht gelesen wird; auch hat sie der Postbote nicht verloren. Und immer wieder gibt es Einbruchspuren. In der Nacht vom 31. März auf den 1. April 1922 werden Andreas Gruber, seine Ehefrau Cäzilia, seine verwitwete Tochter Victoria Gabriel, deren siebenjährige Tochter Cäzilia und der zweieinhalbjährige Sohn Josef sowie die für Kreszenz auf den Hof gekommene Magd Maria Baumgartner bestialisch mit einer Kreuzhacke ermordet. Nacheinander wurden sie in der stürmischen Nacht durch eine losgebundene, unruhige Kuh in den Stall gelockt. Wie die spätere Obduktion ergibt, hat sich das siebenjährige Mädchen in einem zweistündigen Todeskampf büschelweise die Haare ausgerissen. Die letzte Vernehmung im Fall Hinterkaifeck fand 1986 in Hallbergmoos bei Freising statt. Doch die Täter wurden nie gefaßt, und so halten die Mutmaßungen an, beschäftigt der Fall die Menschen der Region im Städtedreieck Augsburg/Regensburg/München bis heute. Der Münchener Journalist Peter Leuschner, der seit zwei Jahrzehnten die Mordgeschichte recherchiert und dafür die bayerischen Archive durchkämmt, veröffentlicht dieser Tage ein detailliertes Buch über die gruseligen Vorgänge auf Hinterkaifeck - und über die nachgerade gespenstischen Ermittlungen (Peter Leuschner: "Hinterkaifeck". Apus-Verlag, Hofstetten. 367 S., 42 Mark). Erst vier Tage nach der Tat werden die Leichen entdeckt. Die Münchener Mordkommission unter Leitung des gewissenhaften, aber durch die Untersuchung rechter Fememorde in Bayern überlasteten Oberinspektors Georg Reingruber ermittelt in einem Klima wahrer Hysterie. Hunderte von Bauern streifen, mit Sensen und Werkzeugen bewaffnet, durch die Wälder, um die Mörder zu suchen. Oberschlesische Vertriebene, Hausierer, Banden und überhaupt alle Fremden werden verdächtigt. Schnell deckt Oberinspektor Reingruber immerhin auf, daß Altbauer Gruber Inzest mit seiner 35 Jahre alten verwitweten Tochter trieb; der kleine Josef galt als Kind dieser Verbindung. Schon 1919 war Gruber wegen Blutschande zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden. In der Öffentlichkeit sagte er, nachdem sein Schwiegersohn im Ersten Weltkrieg gefallen war: "Mei Tochter braucht kein Mann mehr, dafür bin i da." Als offizieller Vater des kleinen Josef gilt der Nachbar Lorenz Schlittenbauer, mit dem die junge und schöne Witwe demonstrativ ein kurzes Verhältnis hatte. Bei der Obduktion schneidet der zuständige Neuburger Landgerichtsarzt [[Ermittler: Aumüller Johann Baptist | Johann Baptist Aumüller]] auf einem provisorischen Seziertisch auf dem Hof allen sechs Leichen die Köpfe ab. Damit beginnt ein besonders bizarres Kapitel der jahrzehntelangen Ermittlungen. Die Münchener Polizeiführung neigt in jenen Jahren okkulten Kreisen zu, im Zusammenhang mit der Aufklärung von Fememorden im rechtsextremistischen Milieu werden Hellseherinnen eingeschaltet. Auch im Fall Hinterkaifeck organisiert die desorientierte Polizei eine Séance. In Nürnberg befassen sich zwei weibliche Medien mit den Köpfen der Leichen. Die Sitzungen werden in Gegenwart des Ersten Staatsanwalts Ferdinand Renner protokolliert. Eines der Medien beschreibt einen der Täter mit den Worten: "Hat etwas Scheues an sich, häßliches Lachen, noch jünger, Furche im Gesicht, im Blick etwas Stechendes, kann sich sehr verstellen." Die sechs Köpfe verlieren sich später irgendwo in den Wirren der Weimarer Republik und den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs. Autor Leuschner hat nun eine gewaltige Stoffsammlung zusammengetragen, die grelle Schlaglichter auf die wirren Verhältnisse im Deutschland jener Zeit wirft. Als in Hinterkaifeck in jenem März vor 75 Jahren der sechsfache Mord geschah, konnte ein gewisser Friedrich Haarmann gerade das Arbeitslager Jägerheide verlassen. Er erlangt bis zu seiner Hinrichtung im Jahr 1924 traurige Berühmtheit durch zahlreiche Knabenmorde und zusätzlich durch die Eigenart, manchen Opfern in sexueller Ekstase die Kehle durchzubeißen. Leuschners Hinterkaifeck-Buch liefert reiches sozialgeschichtliches Material mit bedrückenden Details über die sozialen Zustände in der Provinz der Weimarer Republik - über eine verdichtete Atmosphäre tiefer Gläubigkeit, roher Verbrechen und einer entwurzelten Gesellschaft, die sich bereits im Umbruch hin zum Nationalsozialismus befindet. Die Polizei stellt 1922 für die Ergreifung der Täter die damals geradezu atemberaubende Summe von 100 000 Mark in Aussicht. Die unterschiedlichsten Spuren werden verfolgt. War der düpierte Nachbar Schlittenbauer einer der Mörder? Hatten die Täter tagelang auf einem Dachboden des großen Einödhofs gehaust, um ihre Opfer zu beobachten? Dafür gibt es Anhaltspunkte. Sicher ist, daß die Täter nach den Morden noch auf dem Hof gegessen und das Vieh versorgt haben. Möglich ist, daß das Anwesen von rechten Kreisen als geheimes Waffenversteck genutzt wurde. Jeder Verrat solcher Verstecke oder auch nur die Androhung des Verrats führte zu Fememorden. Ziemlich sicher ist, daß der Fall Hinterkaifeck kein Raubmord war, wie die Polizei lange angenommen hat. Die Grubers waren für ihre Zeit ausgesprochen reiche Leute. Die Täter ließen aber große Geldsummen unangetastet. Der damalige Waidhofener Pfarrer Michael Haas ist einer der ganz wenigen, der die Mörder gekannt haben könnte. In den Polizeiakten fehlt allerdings die Aussage des Geistlichen, der doch in der tief katholischen Gegend - durch die Beichte - über alle Verhältnisse Bescheid gewußt haben muß. Seltsam erscheint manchem auch, daß Grubers Tochter Victoria kurz vor dem Verbrechen im Beichtstuhl der Kirche eine Geldspende von 700 Mark liegenließ. Nicht von ungefähr löst der Fall Hinterkaifeck in Bayern eine Diskussion um das Beichtgeheimnis aus. Immer wieder ist gerätselt worden, ob der in Frankreich gefallene Ehemann der Victoria womöglich zum Zeitpunkt der Tat gar nicht tot war, sondern blutige Rache an seinem Schwiegervater und dessen Familie geübt haben könnte. Die Leiche des vorgeblich 1914 in Frankreich gefallenen Karl Gabriel konnte nie gefunden werden. Die Polizei verfolgte jahrelang Spuren verdächtiger französischer Fremdenlegionäre - Legionäre können problemlos neue Namen annehmen. Einen Beweis für die These, die Karl Gabriel als Täter sieht, gibt es jedoch bis heute nicht. Autor Leuschner, der mit Rücksicht auf die überlebenden - zu Unrecht - Verdächtigten bewußt nichts über seine persönlichen Verdachtsmomente sagen will, meint: "Rein theoretisch könnten die Täter oder einer von ihnen hoch betagt noch leben." Der Hof Hinterkaifeck wurde nach dem Mord abgerissen. Heute ist der ehemalige Tatort ein blanker Acker, in dessen Nähe nur noch ein Marterl ("Gottloser Mörderhand fielen zum Opfer") an das Verbrechen erinnert. Da die Schrobenhausener Spargelfelder ordentlich genutzt werden sollen, wurde das Marterl einmal leicht versetzt. Die sechs kopflosen Opfer sind auf dem Friedhof in Waidhofen beigesetzt. Auf dem Grabstein stehen zwei knappe Sätze aus dem neunten Psalm: "Der Herr gedenket als Bluträcher ihrer. Vergisst nicht das Geschrei der Armen."
</tt>
</tt>
|}
|}
== Offene Fragen/Bemerkungen ==
== Offene Fragen/Bemerkungen ==

Version vom 16. April 2011, 22:18 Uhr

Mehr als sieben Jahrzehnte nach der Bluttat beschäftigt der Mordfall Hinterkaifeck immer noch die Menschen einer ganzen Region in Oberbayern

Detailinformationen

Datum

22. März 1997

Ort

unbekannt

Art des Dokumentes

Zeitungsartikel

Verfasser

Martin S. Lambeck

Verfasst für

Die Welt

Inhalt

100 000 Mark stellte die Polizei für die Ergreifung der Täter in Aussicht; alle möglichen Spuren wurden verfolgt, und in einer Séance erhofften sich die ermittelnden Beamten gar Hilfe von zwei weiblichen Medien - doch die Täter im Fall Hinterkaifeck konnten nie gefaßt werden. Vielleicht sind daran auch die wirren Verhältnisse im Deutschland jener Jahre schuld.Augsburg - Am 30. März des Jahres 1922 macht der 63jährige Altbauer Andreas Gruber auf seinem Einödhof Hinterkaifeck nahe dem oberbayrischen Schrobenhausen eine Entdeckung, die ihm das Blut in den Adern gefrieren läßt: Vom Waldrand führen Spuren durch den Schnee auf sein Anwesen zu - aber keine zurück. Der wortkarge Mann erzählt zwar zwei Nachbarn, was er gesehen hat, die örtliche Gendarmerie schaltet er aber nicht ein. Die Spuren im Schnee sind nur ein letztes Zeichen dafür, daß auf dem einsamen Gehöft etwas nicht stimmt. Im Herbst 1921 hat überstürzt die junge Magd Kreszenz R. gekündigt - wegen der "gespannten Atmosphäre" auf dem Hof und "weil es dort spukt". Der Bauer findet eine Zeitung, die auf Hinterkaifeck nicht gelesen wird; auch hat sie der Postbote nicht verloren. Und immer wieder gibt es Einbruchspuren. In der Nacht vom 31. März auf den 1. April 1922 werden Andreas Gruber, seine Ehefrau Cäzilia, seine verwitwete Tochter Victoria Gabriel, deren siebenjährige Tochter Cäzilia und der zweieinhalbjährige Sohn Josef sowie die für Kreszenz auf den Hof gekommene Magd Maria Baumgartner bestialisch mit einer Kreuzhacke ermordet. Nacheinander wurden sie in der stürmischen Nacht durch eine losgebundene, unruhige Kuh in den Stall gelockt. Wie die spätere Obduktion ergibt, hat sich das siebenjährige Mädchen in einem zweistündigen Todeskampf büschelweise die Haare ausgerissen. Die letzte Vernehmung im Fall Hinterkaifeck fand 1986 in Hallbergmoos bei Freising statt. Doch die Täter wurden nie gefaßt, und so halten die Mutmaßungen an, beschäftigt der Fall die Menschen der Region im Städtedreieck Augsburg/Regensburg/München bis heute. Der Münchener Journalist Peter Leuschner, der seit zwei Jahrzehnten die Mordgeschichte recherchiert und dafür die bayerischen Archive durchkämmt, veröffentlicht dieser Tage ein detailliertes Buch über die gruseligen Vorgänge auf Hinterkaifeck - und über die nachgerade gespenstischen Ermittlungen (Peter Leuschner: "Hinterkaifeck". Apus-Verlag, Hofstetten. 367 S., 42 Mark). Erst vier Tage nach der Tat werden die Leichen entdeckt. Die Münchener Mordkommission unter Leitung des gewissenhaften, aber durch die Untersuchung rechter Fememorde in Bayern überlasteten Oberinspektors Georg Reingruber ermittelt in einem Klima wahrer Hysterie. Hunderte von Bauern streifen, mit Sensen und Werkzeugen bewaffnet, durch die Wälder, um die Mörder zu suchen. Oberschlesische Vertriebene, Hausierer, Banden und überhaupt alle Fremden werden verdächtigt. Schnell deckt Oberinspektor Reingruber immerhin auf, daß Altbauer Gruber Inzest mit seiner 35 Jahre alten verwitweten Tochter trieb; der kleine Josef galt als Kind dieser Verbindung. Schon 1919 war Gruber wegen Blutschande zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden. In der Öffentlichkeit sagte er, nachdem sein Schwiegersohn im Ersten Weltkrieg gefallen war: "Mei Tochter braucht kein Mann mehr, dafür bin i da." Als offizieller Vater des kleinen Josef gilt der Nachbar Lorenz Schlittenbauer, mit dem die junge und schöne Witwe demonstrativ ein kurzes Verhältnis hatte. Bei der Obduktion schneidet der zuständige Neuburger Landgerichtsarzt Johann Baptist Aumüller auf einem provisorischen Seziertisch auf dem Hof allen sechs Leichen die Köpfe ab. Damit beginnt ein besonders bizarres Kapitel der jahrzehntelangen Ermittlungen. Die Münchener Polizeiführung neigt in jenen Jahren okkulten Kreisen zu, im Zusammenhang mit der Aufklärung von Fememorden im rechtsextremistischen Milieu werden Hellseherinnen eingeschaltet. Auch im Fall Hinterkaifeck organisiert die desorientierte Polizei eine Séance. In Nürnberg befassen sich zwei weibliche Medien mit den Köpfen der Leichen. Die Sitzungen werden in Gegenwart des Ersten Staatsanwalts Ferdinand Renner protokolliert. Eines der Medien beschreibt einen der Täter mit den Worten: "Hat etwas Scheues an sich, häßliches Lachen, noch jünger, Furche im Gesicht, im Blick etwas Stechendes, kann sich sehr verstellen." Die sechs Köpfe verlieren sich später irgendwo in den Wirren der Weimarer Republik und den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs. Autor Leuschner hat nun eine gewaltige Stoffsammlung zusammengetragen, die grelle Schlaglichter auf die wirren Verhältnisse im Deutschland jener Zeit wirft. Als in Hinterkaifeck in jenem März vor 75 Jahren der sechsfache Mord geschah, konnte ein gewisser Friedrich Haarmann gerade das Arbeitslager Jägerheide verlassen. Er erlangt bis zu seiner Hinrichtung im Jahr 1924 traurige Berühmtheit durch zahlreiche Knabenmorde und zusätzlich durch die Eigenart, manchen Opfern in sexueller Ekstase die Kehle durchzubeißen. Leuschners Hinterkaifeck-Buch liefert reiches sozialgeschichtliches Material mit bedrückenden Details über die sozialen Zustände in der Provinz der Weimarer Republik - über eine verdichtete Atmosphäre tiefer Gläubigkeit, roher Verbrechen und einer entwurzelten Gesellschaft, die sich bereits im Umbruch hin zum Nationalsozialismus befindet. Die Polizei stellt 1922 für die Ergreifung der Täter die damals geradezu atemberaubende Summe von 100 000 Mark in Aussicht. Die unterschiedlichsten Spuren werden verfolgt. War der düpierte Nachbar Schlittenbauer einer der Mörder? Hatten die Täter tagelang auf einem Dachboden des großen Einödhofs gehaust, um ihre Opfer zu beobachten? Dafür gibt es Anhaltspunkte. Sicher ist, daß die Täter nach den Morden noch auf dem Hof gegessen und das Vieh versorgt haben. Möglich ist, daß das Anwesen von rechten Kreisen als geheimes Waffenversteck genutzt wurde. Jeder Verrat solcher Verstecke oder auch nur die Androhung des Verrats führte zu Fememorden. Ziemlich sicher ist, daß der Fall Hinterkaifeck kein Raubmord war, wie die Polizei lange angenommen hat. Die Grubers waren für ihre Zeit ausgesprochen reiche Leute. Die Täter ließen aber große Geldsummen unangetastet. Der damalige Waidhofener Pfarrer Michael Haas ist einer der ganz wenigen, der die Mörder gekannt haben könnte. In den Polizeiakten fehlt allerdings die Aussage des Geistlichen, der doch in der tief katholischen Gegend - durch die Beichte - über alle Verhältnisse Bescheid gewußt haben muß. Seltsam erscheint manchem auch, daß Grubers Tochter Victoria kurz vor dem Verbrechen im Beichtstuhl der Kirche eine Geldspende von 700 Mark liegenließ. Nicht von ungefähr löst der Fall Hinterkaifeck in Bayern eine Diskussion um das Beichtgeheimnis aus. Immer wieder ist gerätselt worden, ob der in Frankreich gefallene Ehemann der Victoria womöglich zum Zeitpunkt der Tat gar nicht tot war, sondern blutige Rache an seinem Schwiegervater und dessen Familie geübt haben könnte. Die Leiche des vorgeblich 1914 in Frankreich gefallenen Karl Gabriel konnte nie gefunden werden. Die Polizei verfolgte jahrelang Spuren verdächtiger französischer Fremdenlegionäre - Legionäre können problemlos neue Namen annehmen. Einen Beweis für die These, die Karl Gabriel als Täter sieht, gibt es jedoch bis heute nicht. Autor Leuschner, der mit Rücksicht auf die überlebenden - zu Unrecht - Verdächtigten bewußt nichts über seine persönlichen Verdachtsmomente sagen will, meint: "Rein theoretisch könnten die Täter oder einer von ihnen hoch betagt noch leben." Der Hof Hinterkaifeck wurde nach dem Mord abgerissen. Heute ist der ehemalige Tatort ein blanker Acker, in dessen Nähe nur noch ein Marterl ("Gottloser Mörderhand fielen zum Opfer") an das Verbrechen erinnert. Da die Schrobenhausener Spargelfelder ordentlich genutzt werden sollen, wurde das Marterl einmal leicht versetzt. Die sechs kopflosen Opfer sind auf dem Friedhof in Waidhofen beigesetzt. Auf dem Grabstein stehen zwei knappe Sätze aus dem neunten Psalm: "Der Herr gedenket als Bluträcher ihrer. Vergisst nicht das Geschrei der Armen."

Offene Fragen/Bemerkungen